Erinnern Sie sich an Natalie Dedreux und ihren Auftritt in der ARD-Wahlarena vor der Bundestagswahl 2017? Die junge Frau mit Down Syndrom, die bei der Caritas in Köln arbeitet, fragte Bundeskanzlerin Angela Merkel, warum es denn immer noch möglich sei, dass ein Kind wie sie bis kurz vor der Geburt abgetrieben werden dürfe. „Ich will nicht abgetrieben werden, ich will auf der Welt bleiben", sagte Dedreux.
Merkels Antwort: Viele Eltern hätten große Angst, ein behindertes Kind zu bekommen. Sie wüssten oft nicht, wie gut sie unterstützt werden könnten.
Seit einigen Jahren wird es Eltern leicht gemacht, vor der Geburt zu erkennen, ob ihr Kind ein Down Syndrom (Trisomie 21) hat. Notwendig ist nur ein kleiner Piks, eine Blutentnahme ohne großes Risiko. Die Tests, die dafür entwickelt wurden, heißen Praenatest, Panorama Test oder Harmony Test – die Bezeichnungen signalisieren: Alles ganz leicht und unproblematisch. Medizinisch-technisch mag das stimmen, aber auch ethisch-moralisch?
Auch andere, teils schwere geistige Behinderungen (Trisomie 13 und 18) sind mit den vorgeburtlichen Chromosomentests inzwischen sehr sicher ermittelbar, genau wie das Geschlecht oder geschlechtliche Uneindeutigkeiten (Intersexualität). Weitere molekulargenetische Testverfahren werden ganz sicher folgen.
Auch deshalb haben parteiübergreifend mehr als 100 Bundestagsabgeordnete jetzt eine Debatte über ethische und gesetzgeberische Fragen bei genau diesen Bluttests angestoßen. Das ist gut, denn spätestens, wenn die Tests zur Regelleistung der Krankenkassen gehören sollten (wonach es derzeit aussieht), ist die Tür zur vorgeburtlichen Fahndung nach Behinderungen, vermeintlichen Anomalitäten und – umgekehrt – das Vorherbestimmen von körperlichen Eigenschaften wie Augen- und Haarfarbe weit geöffnet.
Denn wie verheerend muss diese Entwicklung auf Menschen wie Natalie Dedreux wirken?
Der unkomplizierte, bedingungslose und demnächst womöglich auch noch kostenlose Zugang zu den Chromosomentests signalisiert: Menschen, die von der Norm abweichen, sind in unserer Gesellschaft nicht gewollt. Behinderung gilt zunehmend als zu vermeidendes Übel.
Eltern können sich zunehmend verpflichtet fühlen, nur ein gesundes Baby bekommen zu dürfen. Tatsächlich entscheiden sich schon heute 90 Prozent von ihnen für einen Abbruch, wenn die Diagnose Down Syndrom vorliegt.
Dass Eltern Gewissheit möchten und – wie Merkel in der Wahlarena erklärte – Angst haben, ein behindertes Kind zu bekommen, ist gut nachvollziehbar. Der Bluttest aber kommt als reines Selektionsinstrument daher, ohne therapeutischen Nutzen. Mit dem Heilauftrag eines Arztes verträgt er sich kaum.
Wenn Merkel also lapidar beklagt, dass Eltern oft nicht wüssten, wie gut sie unterstützt würden, hat sie unbewusst den Kern der Debatte berührt, die endlich geführt werden muss: Wir haben noch immer nicht gelernt, eine wirklich inklusive Gesellschaft zu bauen, in der wir das Leben in seiner ganzen Vielfalt akzeptieren.
Kommentar von Dr. med. Frank Johannes Hensel, Diözesan-Caritasdirektor für das Erzbistum Köln, aus der Kirchenzeitung vom 8. Februar, Ausgabe 06/19.