Johanna Rockstroh

"Ich war nie eine gnädige Frau"

Johanna Rockstroh, geboren am 23. Juni 1912, hat ihren Mann im Krieg verloren, gehungert, wurde vertrieben und musste neu anfangen. Doch sie blieb optimistisch, bis heute.

Wenn Johanna Rockstroh einen anschaut, sieht es immer ein bisschen aus, als würde sie blinzeln, als säße da irgendein versteckter Schalk in ihrem Nacken. Ihre Hände halten die Tageszeitung von heute. Natürlich liest sie die aktuellen Neuigkeiten. Von heute, von jetzt. Denn Johanna Rockstroh lebt im Heute und Jetzt. Dass sie 102 Jahre alt ist, hält sie nicht davon ab. Im Gegenteil.

Am 23. Juni 1912 wurde sie in Borchersdorf bei Königsberg in Ostpreußen geboren. Ganz in der Nähe eines Rittergutes. Das klingt nach einer Prinzessinnenkindheit. Dazu würden auch ihre zarte Gestalt, das schmale Gesicht und die beinahe durchsichtige Haut passen. Doch das alles täuscht gewaltig. Johanna Rockstroh ist resolut. Nicht mal als Dame oder als gnädiges Fräulein hätte sie sich jemals bezeichnen lassen: „Ich war nie eine gnädige Frau, will ich auch nicht sein. Ich habe mein Leben lang gearbeitet.“

So wie ihre Eltern auf jenem Rittergut bei ihrem Geburtsort. Johanna Rockstroh war das vierte von sechs Kindern, und alle mussten mit anfassen. „Das waren 100 Kühe, da mussten wir melken am Morgen.“

Heute würde man „mitten in der Nacht“ dazu sagen. Um drei Uhr in der Früh standen die Kinder auf und gingen in den Stall, danach zur Schule. Zu Fuß – natürlich. Den Weg zur Schule schätzt sie auf etwa vier Kilometer. „Bei jedem Wetter sind wir da raus. Und der Winter in Ostpreußen ist lang.“

Jetzt, im Caritashaus Hildegundis von Meer in Meerbusch-Osterath, liegt eine warme Wolldecke auf ihrem Schoß. Seit ein paar Jahren lebt sie hier in ihrem eigenen Zimmer. „Ein besonders schönes“, wie sie findet. Schön, weil es einen kleinen Balkon hat und weil große Fenster den Blick auf einen Park und üppige Rosenbüsche freigeben. Und schön, weil sie es sich schön gemacht hat. Johanna Rockstroh hat es dekoriert, auch mit vielen Bildern ihrer Familie, dem Wichtigsten, was sie hat: Da sind ihre beiden Kinder Fritz-Andreas und Eleonore, ihre Enkelkinder Astrid und Ute und ihre Urenkel Pauline und Timo.

Sie ist sehr stolz auf ihre Familie. Und die Geschichte, die sie erzählt, ist eine Familiengeschichte. Krieg, Flucht und Hunger hat sie erlebt. Schreckliches Unglück, aber auch großes Glück.