Gertrud Siegmund

"Ich habe mein Leben in vollen Zügen genossen"

Gertrud Siegmund, geboren am 18. August 1913, war 17, als sie anfing zu rauchen.
Erst mit 91 hörte sie auf."

Irgendwann im Sommer 1930 rauchte Gertrud Siegmund ihre erste Zigarette. „Nach zwei Zügen lag ich auf der Couch und fühlte mich so krank, wie ich mich noch nie gefühlt hatte.“ Der Bruder ihrer Freundin, ein Polizist, hatte sie angestiftet. „Komm, Trudchen, jetzt probier mal!“, drängte er, und die 17-Jährige probierte. Sie schwor sich danach, nie im Leben wieder eine Zigarette auch nur anzurühren. Nach einigen Stunden ging es ihr aber wieder gut, „und ich habe mich gefragt, warum ich mir das eigentlich geschworen hatte“.

Gertrud Siegmund hörte erst auf zu rauchen, als sie wegen eines Schwächeanfalls ins Krankenhaus kam. Da war sie 91 Jahre alt.

Gertrud Siegmund sitzt, 100-jährig, in einem engen schwarzen Kleid und dezent geschminkt in ihrem Zimmer im Düsseldorfer Edmund-Hilvert-Haus. Draußen läuten die gelben und braunen Blätter der Bäume den Herbst ein, drinnen erzählt sie mit fast frühlingshaftem Aufbruch aus ihrem Leben. Es waren eigentlich zwei Leben. Eines vor dem Krieg in Stettin, eines danach in Düsseldorf. Gemeinsam ist beiden: „Ich habe sie in vollen Zügen genossen“, erzählt sie mit weichem pommerischem Singsang. Obwohl sie seit über 50 Jahren am Rhein lebt, fühlt sie sich als Stettinerin. Die Stadt am Haff war von ihrer Geburt im August 1913 bis 1945 ihre geliebte Heimat.

Nach dem Krieg war sie nie wieder dort, was eigentlich merkwürdig ist, denn Gertrud Siegmund hat sonst fast die ganze Welt gesehen. Indochina, Südafrika, die USA, Lateinamerika. In Stettin hatte sie nicht weit vom Hafen gewohnt. Immer wieder ging sie als junges Mädchen zu den großen Handelsschiffen und schaute raus auf die Ostsee. Fernweh. Sie nennt es einen glücklichen Zufall, dass sie 1933, im Jahr der Machtergreifung Adolf Hitlers, einen Mann heiratete, der sie immer wieder mitnahm auf die andere Seite der Ostsee. Nach Finnland.

Arthur Siegmund war Teilhaber einer Übersee-Spedition. Er sprach perfekt Englisch und Finnisch, war ein Weltbürger. Das jedoch erfuhr sie erst später. Etwas anderes war es, was sie für ihn eingenommen hatte: „Er spielte Geige, und das sah richtig schick aus“, sagt Gertrud Siegmund und lacht glucksend. Sie verliebte sich in ihn und er sich in sie. „Verliebt“, dieses Wort benutzt sie nicht, sie bleibt nordisch-diplomatisch: „Von da an war ich freundlich zu ihm.“

Arthurs Eltern waren mit der Eroberung alles andere als einverstanden. „Ich rauchte ja. Früher bedeutete das, man war ein leichtes Mädchen von der Straße“, erzählt Gertrud Siegmund.