Konstantine Becker

"Man muss doch auch mal ausrutschen im Leben"

Konstantine Becker, geboren am 23. November 1914, hat all ihre Freunde und Verwandten
überlebt. Zu ihrem 100. Geburtstag wollte sie eigentlich weder Kuchen noch Kerzen. „Ich habe doch alles gehabt“, sagt sie.

100 Kerzen ausblasen – das schaffe ihre Lunge gar nicht mehr, sagt Konstantine Becker. Und auf den Kuchen hätte sie auch verzichten können. „Ach“, sagt sie, „was haben die hier ein Theater um meinen Geburtstag gemacht.“ Mit „die“ meint Konstantine Becker die Mitarbeiterinnen des Altenpflegeheims Marialinden in Overath, die sich seit zehn Jahren um die Seniorin bemühen, ihr Hilfe, Gesprächspartner und manchmal auch Freund sind. „Alle wollen sie mit mir feiern, freuen sich. Aber ich, ich möchte das nicht wirklich.“

Dabei ist Konstantine Becker mit ihren 100 Jahren keinesfalls eine traurige alte Frau. Sie genießt die Gesellschaft, kann auch immer noch über sich selbst lachen und ruht tief in sich. Sie hat einfach irgendwann aufgehört, für die Zukunft zu leben. Ihre Gedanken und Träume handeln von früher. Damals, als sie noch eine große Runde waren, wenn ein Geburtstagskuchen angeschnitten wurde. Viel gefeiert hat sie, viel gelacht. Und ja, auch geweint. Konstantine Becker hatte 100 Jahre Leben pur. Und irgendwann, so findet sie, ist es auch gut.

Von ihrer Familie und ihren Freunden ist keiner mehr dabei, wenn die Geburtstagstorte angeschnitten wird. Alle sind tot. Konstantine Becker hat alle Menschen, die sie in ihrem Leben begleitet haben, überlebt. Etwas steif und angespannt sitzt sie in ihrer blauen Blümchenbluse in ihrem Rollstuhl. Sie wollte von ihrem Leben erzählen. Aber wovon genau? Hat sie überhaupt etwas zu erzählen? Wen würde es interessieren? Und wenn es jemanden interessiert, wo sollte sie dann anfangen? Das sind die Gedanken, die ihr in den Sinn kommen.

Viel gearbeitet habe sie in ihrem Leben, sehr viel gearbeitet, beginnt sie zögerlich. „Ja, eigentlich nur gearbeitet“, sagt sie und lehnt sich in ihrem Sessel zurück. So als würde das alle Fragen beantworten – eine Rechtfertigung ihres 100-jährigen Daseins. Nur langsam ist sie bereit, etwas von sich preiszugeben. Ihre alten Hände, deren Haut an feines Pergamentpapier erinnert, umklammern das Fotoalbum. Und als sie es mit zittrigen Fingern aufschlägt, spult sie doch noch einmal die Zeit zurück.