Georg Eschner

"Sich davon zu lösen, was man verstanden oder als richtig anerkannt hatte, das hat lange Zeit gebraucht"

Georg Eschner, geboren am 13. Oktober 1915, hat sich und sein Leben immer wieder hinterfragt – und geändert.

Er hat sich vor dem Interview Notizen gemacht. Sein Leben auf zwei DIN-A5-Seiten. Links die Daten, rechts ein paar Stichworte, manchmal auch ein Satz, den er unbedingt unterbringen möchte in dem Gespräch. Georg Eschner sitzt vor einem Bildschirmlesegerät und schiebt einen der beiden Zettel so lange nach rechts und wieder nach links, nach oben und wieder nach unten, bis auf dem Monitor vor ihm die gesuchte Information erscheint – in 25-facher Vergrößerung. Eschner kann kaum noch sehen, Schuld ist eine altersbedingte Makula-Degeneration. Eine Brille nützt nichts mehr. Nur mit Hilfe des Lesegeräts kommt er noch an Informationen, so liest er auch täglich die Zeitung.

„Da ist es“, sagt der Mann im weinroten Pullunder triumphierend. „Auf einem Maifest 1938 der Technischen Universität Braunschweig war es, da habe ich Bim kennengelernt.“ Bim, das war der Rufname seiner späteren Frau Marie. Frühling hieß sie mit Nachnamen. „Marie Frühling – war das nicht ein schöner Name?“, fragt Georg Eschner und lächelt versonnen. Am 4. Oktober 2003 starb seine viel jüngere Frau nach einer schweren Erkrankung. 60 Jahre waren sie da verheiratet gewesen, vier Kinder hatten die beiden. Die einzige Tochter Gisela starb 1947 mit nur zwei Jahren. 

Georg Eschner, der damals in Kriegsgefangenschaft war, hatte sie nur fünf Tage gesehen – während eines „Urlaubs auf Ehrenwort“. Er musste „hoch und heilig“ versprechen, dass er zurückkommen würde. Das tat er auch. All die Lebensdaten, die schönen und die schmerzlichen, stehen auch auf dem Zettel, aber Georg Eschner muss dafür nicht nachschauen. Er hat die Zahlen parat.

Am 13. Oktober 1915 wird Georg Eschner in Görlitz geboren. Er ist ein Jahr alt, als seine Eltern mit ihm und seinen zwei Brüdern nach Geesthacht nicht weit von Hamburg ziehen. Dort heuert sein Vater, ein Ingenieur, in der Munitionsfabrik eines Onkels an. Jetzt, mitten im Ersten Weltkrieg, boomen die Geschäfte. 1921 zieht die Familie nach Hagen in Westfalen, der Vater wird Lehrer an einer Ingenieursschule. Im Flur des Hauses hängt damals eine Reckstange. Sein Vater, so erzählt Georg Eschner, legt Wert darauf, dass seine Söhne jeden Morgen ihre Klimmzüge machen. „Das war eben die Zeit“, sagt Eschner fast entschuldigend. Auch wenn der Mann inzwischen die meiste Zeit des Tages in einem Drehsessel mit Rädern sitzt: Er wirkt immer noch sportlich und stattlich, ein würdiger älterer Herr, der häufig lacht und sich dann die Tränen aus den Augenwinkeln tupft.